- Datum:
- 10.04.2022
Bild am Sonntag: Müssen wir uns darauf einrichten, dass die Ukrainer viele Jahre oder sogar für immer bleiben?
Hubertus Heil: Wir wollen der Ukraine keine Menschen abspenstig machen, sondern unseren europäischen Freunden in größter Not helfen. Die Geflüchteten haben großes Leid erlebt, sind oft traumatisiert und mussten meist noch Verwandte in der Heimat zurücklassen. Es geht darum, ihnen Normalität und Freude am Leben zurück zu geben.
BAMS: Sollen die ukrainischen Kinder einen identischen Rechtsanspruch auf Betreuung bekommen wie die deutschen?
Heil: Das vorherrschende Gefühl bei uns im Land ist doch gerade, dass wir helfen wollen, wo wir können. Niemand will dabei Einheimische gegen Geflüchtete ausspielen. Und um so pragmatisch wie möglich zu helfen, müssen alle ein wenig zusammenrücken. In einer so dramatischen Lage geht es um maximale Flexibilität. In der Ukraine fallen Bomben auf Kindergärten, da müssen wir in unseren Kitas und Schulen Herz zeigen. Ich bin überzeugt, dass in vielen Gruppen noch Platz für ein oder zwei Kinder ist.
BAMS: Auch bei der Flüchtlingskrise 2015 war die Hilfsbereitschaft anfangs sehr hoch. Dann ist die Stimmung gekippt. Wie wollen Sie das diesmal verhindern?
Heil: Die Großherzigkeit muss diesmal länger tragen als ein paar Monate. Dieser Krieg kann noch sehr lange dauern. Darauf müssen wir uns als Gesellschaft einstellen. Das geht nur, wenn keiner gegen den anderen ausgespielt wird. Darum müssen wir klar machen: Unsere Versprechen an die Gesellschaft gelten nach wie vor. Für meinen Bereich zum Beispiel heißt das: Ein robuster Arbeitsmarkt und eine stabile Rente bleiben genauso im Fokus meiner Arbeit wie die Hilfe für Geflüchtete.
BAMS: Was wissen Sie über den Bildungsstand der Flüchtlinge?
Heil: Das ukrainische Bildungssystem ist tiptop. Deshalb ist es sehr realistisch, dass viele tausende Menschen kommen, die eine gute Ausbildung haben. Diese Menschen wollen arbeiten. Unsere Aufgabe ist es, dass sie jetzt schnell gute Jobs finden. Bisher haben 1000 Geflüchtete bei der Bundesagentur für Arbeit persönlich vorgesprochen. Viele tausend mehr haben sich bei der Telefon-Hotline gemeldet. Bei den Integrationskursen haben wir 3.500 Anmeldungen, Tendenz stark steigend.
BAMS: Der Großschlachter Tönnies ist mit Bussen an die Grenze gefahren, um gleich Arbeitskräfte einzusammeln. Finden Sie das gut?
Heil: Diese schlimme Aktion ist zu recht abgebrochen worden. Die allermeisten Unternehmen helfen mit, aber es gibt leider einige wenige Firmen, die versuchen, die Not der Menschen auszunutzen. Die Geflüchteten dürfen nicht auch noch Opfer von Ausbeutung werden. Die Behörden werden hier scharf kontrollieren.
BAMS: Die Ukrainer dürfen sofort bei uns arbeiten, sie bekommen Hartz IV statt Asylbewerberleistungen. Das würden sich Menschen aus Syrien oder Eritrea auch wünschen. Gibt es Flüchtlinge erster und zweiter Klasse für die Regierung?
Heil: Menschen sind für uns alle gleich. Aber die Rechtssituation ist bei der Ukraine eine andere, weil die EU entschieden hat, dass die Ukrainer in allen Mitgliedsstaaten Zuflucht bekommen sollen ohne einen Asylantrag zu stellen. Sie werden deshalb anerkannten Asylbewerbern gleichgestellt und dürfen auch sofort hier arbeiten. Die Ampel wird aber auch die Fachkräftezuwanderung unbürokratischer gestalten. Und wer als Geflüchteter hierher kommt und eine Ausbildung macht oder Arbeit hat, der soll dauerhaft bleiben dürfen. Wir werden da insgesamt schneller und menschenfreundlicher.
BAMS: Bislang sind 300.000 Menschen aus der Ukraine innerhalb von sechs Wochen zu uns gekommen. Gibt es für Sie eine Obergrenze?
Heil: Es wäre fahrlässig, jetzt über Obergrenzen zu diskutieren. Jetzt ist es unsere nachbarschaftliche Pflicht, der Ukraine zu helfen, die unsere europäischen Werte verteidigt.
BAMS: Wird uns der Krieg mehr Arbeitslose bescheren?
Heil: Wir haben nach Putins Angriff auf die Ukraine das Kurzarbeitergeld, das in der Corona-Krise den deutschen Arbeitsmarkt stabil gehalten hat, verlängert. Im Schnitt rechnen wir in diesem Jahr mit 590.000 Kurzarbeitern, das Wirtschaftswachstum liegt nach der Prognose unserer Forscher bei 1,4 bis 1,5 Prozent, es bleibt also bei einem Wachstum. Das Ganze steht aber unter dem Vorbehalt, dass sich der Krieg nicht ausweitet und die Energieversorgung steht. Aber seien Sie sich sicher: Falls die Lage sich verschlechtert, wird die Bundesregierung mit weiteren gezielten Wirtschaftshilfen und der Kurzarbeit wo immer es geht Arbeitsplätze sichern.