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"Leistung und Einsatz müssen sich lohnen"

Interview von Hubertus Heil, Bundesminister für Arbeit und Soziales, mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

Datum:
21.10.2023

Frankfurter Allgemeine Zeitung: Herr Heil, laut einer Umfrage des Gebäudereinigerhandwerks kommt es inzwischen häufiger vor, dass Reinigungskräfte die Arbeit aufgeben und lieber Bürgergeld beziehen. Was läuft da im Sozialstaat schief?

Hubertus Heil: Umfragen gibt es viele, und sie spiegeln nicht unbedingt die volle Realität wider. Trotzdem muss man sie ernst nehmen, da sie ja offenbar wiedergibt, was Menschen sich erzählen. Aber diese Umfrage, die keine wissenschaftliche Untersuchung ist, ist an vielen Stellen nicht plausibel.

FAZ: Warum das?

Heil: Wenn jemand wirklich mit Verweis auf das Bürgergeld kündigen sollte, wäre das doch ziemlich dumm. Wer als Arbeitnehmer einfach mal so selbst gekündigt hat, bekommt dann erst einmal drei Monate Sperrzeit bei der Arbeitslosenversicherung, also keine Leistung. Sollte dann ein Anspruch auf Bürgergeld bestehen, würde dieses gemindert werden. Es lohnt sich also, in Arbeit zu bleiben.

FAZ: Arbeitslosengeld I setzt mindestens zwölf Monate beitragspflichtige Arbeit voraus. Wer aber aus dem Bürgergeld in Arbeit einsteigt und nach einigen Monaten aufgibt, erhält wieder Bürgergeld – ohne Sperrzeit. Bestreiten Sie das?

Heil: In diesem Fall würde durch die eigenmächtige Kündigung des Beschäftigten das Bürgergeld gemindert. Aber der Regelfall ist: Wenn jemand beispielsweise als Gebäudereiniger gearbeitet hat und dann kündigt, kommt er ins Arbeitslosengeld I, also die Arbeitslosenversicherung, und nicht ins Bürgergeld...

FAZ: ... aber erst, wenn er die Arbeit länger als ein Jahr gemacht hat. Und im Bürgergeld droht auch nur eine Leistungsminderung um 10 Prozent des Regelsatzes, die Leistung fällt nicht weg. Oder?

Heil: Ja, aber wie gesagt wird der Bürgergeldanspruch dann gekürzt. Ich würde die Frage gerne einmal im Zusammenhang beantworten. Denn dahinter steckt ja wirklich eine große Debatte.

FAZ: Nur zu!

Heil: Es geht darum, dass Arbeit sich in Deutschland lohnt. Das ist eine Frage des Respekts und der Leistungsgerechtigkeit. Arbeit muss einen Unterschied machen. Leistung und Einsatz müssen sich lohnen. Denn Leistung bringt dieses Land voran, und das nicht nur ökonomisch. Das galt in der Vergangenheit und gilt heute umso mehr. Wir haben Rekordbeschäftigung in Deutschland. Diese Gesellschaft hat kein gebrochenes Verhältnis zu Erwerbsarbeit und zu ordentlicher Arbeit. Das erlebe ich jeden Tag im Gespräch mit fleißigen Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes.

FAZ: Aber vielleicht lohnt es sich im Einzelfall doch oft nicht genug, den ganzen Tag zu arbeiten, wenn es mit Bürgergeld auch anders geht?

Heil: Arbeit lohnt sich mehr als Bürgergeld. Das Bürgergeld deckt nur das notwendige Existenzminimum – nicht mehr und nicht weniger. So fordert es das Bundesverfassungsgericht. Damit Arbeit sich lohnt, haben wir den Mindestlohn auf 12 Euro erhöht. Und wir haben die
Sozialbeiträge und Steuern für Geringverdiener gesenkt. Wir haben zudem das Kindergeld erhöht und das Wohngeld für Erwerbstätige stark ausgebaut. Das alles trägt dazu bei, dass Arbeit sich stärker lohnt. Das Ziel des Bürgergelds ist es, Menschen aus der Bedürftigkeit in Arbeit zu bringen.

FAZ: Das Bürgergeld wird jetzt zweimal hintereinander um 12 Prozent erhöht. Fänden Sie es nicht problematisch, wenn das Bürgergeld auf Dauer schneller steigt als die normalen Löhne?

Heil: Auch deshalb sind anständige Lohnerhöhungen wichtig. Die Erhöhung des Bürgergelds entspricht den Anforderungen des Verfassungsgerichts und folgt einem klaren gesetzlichen Mechanismus, dem übrigens auch CDU/CSU zugestimmt haben und der in der Sache gut begründet ist: Wir haben nun einmal seit dem vergangenen Jahr eine starke Inflation, und natürlich muss das Existenzminimum daran angepasst werden. Aber: Wenn die Inflation jetzt wieder deutlich runtergeht, wie das viele Fachleute erwarten, dann fällt auch die darauffolgende Bürgergeldanpassung geringer aus.

FAZ: Wenn das Bürgergeld vorerst stärker steigt als zuvor erwartet, muss deswegen dann auch der Mindestlohn noch einmal stärker steigen?

Heil: Es ist kein Geheimnis, dass ich mir zum 1. Januar eine stärkere Erhöhung des Mindestlohns gewünscht hätte. Aber die Mehrheit der Mindestlohnkommission hat anders entschieden. Umso wichtiger war es, dass wir im vergangenen Jahr mit der gesetzlichen Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro eine deutliche Erhöhung geschafft haben. Das entsprach einer Lohnerhöhung um rund 20 Prozent. Das hat Millionen von Menschen, die hart arbeiten und wenig verdienen, gerade in Zeiten hoher Inflation geholfen. Und oberhalb des Mindestlohns auch zur Anhebung von tariflichen Löhnen beigetragen.

FAZ: Wollen Sie das Mindestlohngesetz noch einmal ändern, da der jüngste Beschluss der zuständigen Sozialpartnerkommission weiten Teilen der Politik missfällt?

Heil: Wir haben im letzten Jahr den Mindestlohn gesetzlich auf 12 Euro erhöht und die Verantwortung für eine Fortentwicklung dann wieder in die Hände der Mindestlohnkommission gegeben. Diesen Vorschlag...

FAZ: ... Erhöhung um je 41 Cent in den Jahren 2024 und 2025...

Heil: ... setzen wir jetzt um. Wie gesagt, ich hätte mir eine höhere Anpassung des Mindestlohns gewünscht. Darüber hinaus ist es nicht gut, dass es zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften in der Kommission keinen Konsens über eine gemeinsame Empfehlung gegeben hat. Das hat eine politische Debatte ausgelöst. Als Arbeitsminister habe ich aber derzeit erst einmal keine andere rechtliche Grundlage, als die Kommissionsergebnisse umzusetzen, weil es sonst keine Anhebung des Mindestlohns gäbe. Es gibt den berechtigten Anspruch, dass die Kommission beim nächsten Vorschlag im Jahr 2025 wieder zu einem Konsens kommt.

FAZ: SPD und Grüne rufen schon nach Regeländerungen oder gleich nach 14 oder 15 Euro. Glauben Sie denn, dass die Parteien sich im Wahlkampf 2025 überhaupt noch um die Kommission scheren?

Heil: Mein Thema ist jetzt wirklich nicht der Wahlkampf 2025. Und wir dürfen einen wichtigen Punkt nicht übersehen: Wer Lohngerechtigkeit allein am Mindestlohn festmacht, springt viel zu kurz. Der eigentliche Schlüssel liegt darin, dass es wieder mehr Tarifbindung in Deutschland gibt. Denn Tariflöhne sind besser als Mindestlöhne. Aber heute arbeiten nur noch 50 Prozent der Beschäftigten unter dem Dach eines Tarifvertrags. Das muss sich ändern.

FAZ: Eine Nachfrage noch: Sind Sie der Ansicht, dass die europäische Mindestlohnrichtlinie eine Änderung des deutschen Mindestlohngesetzes erforderlich macht?

Heil: Richtig ist, dass die Mindestlohnrichtlinie einen Orientierungswert von 60 Prozent der mittleren Einkommen angibt. Das ist aber nicht das einzige Kriterium und unmittelbar keine zwingende Vorgabe. Nach unserer Rechtsauffassung entspricht das heutige deutsche Mindestlohngesetz der europäischen Richtlinie. Allerdings enthält die Richtlinie auch den klaren Auftrag, Tarifbindung zu stärken.

FAZ: Früher wurde Tarifbindung dadurch hergestellt, dass Arbeitnehmer sich gewerkschaftlich organisierten, dann Tarifverträge in den Unternehmen durchsetzten. Warum macht das jetzt der Staat?

Heil: Tarifverträge zu schließen bleibt Aufgabe von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften. Aber wir werden Anreize dafür schaffen, dass davon wieder mehr Gebrauch gemacht wird. So sorgen wir dafür, dass öffentliche Aufträge des Bundes nur an Unternehmen vergeben werden, die tarifliche Bedingungen für ihre Beschäftigten garantieren. Das ist auch im Sinne eines fairen Wettbewerbs.

FAZ: Der Koalitionsvertrag sieht auch vor, das Bürgergeld, Wohngeld und andere Leistungen besser aufeinander abzustimmen, damit sich für Bezieher Arbeiten stärker lohnt. Planen Sie, da etwas umzusetzen?

Heil: Manches haben wir dazu ja schon umgesetzt, darunter die erwähnte Wohngeldreform. Und für Menschen im Bürgergeld haben wir die sogenannten Hinzuverdienstregeln verbessert, um stärkere Beschäftigungsanreize zu schaffen.

FAZ: Also alles abgearbeitet – obwohl die FDP noch darauf wartet, dass Sie loslegen?

Heil: Nachdem wir die Hinzuverdienstmöglichkeiten bereits verbessert haben, haben wir zusätzlich einen Forschungsauftrag vergeben, um zu schauen, ob wir hier einen Schritt weitergehen können. Die Ergebnisse dazu liegen im November vor. Ich gebe aber auch einen Warnhinweis dazu: Es sollten nur Menschen Grundsicherungsleistungen bekommen, die diese auch benötigen. Ich will keinen Weg in ein bedingungsloses Grundeinkommen.

FAZ: Aus Sicht der grünen Familienministerin Lisa Paus hat der Sozialstaat eine Bringschuld gegenüber den Bürgern, nicht die Bürger eine Holschuld. Ist das auch Ihre Haltung?

Heil: Meine Haltung ergibt sich aus Artikel 20 Grundgesetz mit dem Sozialstaatsgebot. Dazu gehören bürgerliche Freiheitsrechte und soziale Bürgerrechte. Ohne Eigenverantwortung der Bürgerinnen und Bürger wird das Land nicht funktionieren. Auf der anderen Seite ist der Staat aber in der Pflicht, Menschen vor Not zu schützen und ihnen darüber hinaus ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Dazu gehört für mich auch, dass es einen unbürokratischen Zugang zu sozialstaatlichen Leistungen geben muss. Nehmen wir als Beispiel die Grundrente, die wir – gegen allerlei Widerstände – so gestaltet haben, dass die Rentenversicherung sie automatisch auszahlt, ohne dass dafür ein Antrag nötig ist. Ich will einer Neunzigjährigen nicht zumuten, dass sie für die Grundrente erst noch mit einem Stapel Unterlagen zum Amt gehen muss.

FAZ: Und wie ist es mit Holschuld im Bürgergeld? Dort galt 2022 ein Sanktionsmoratorium für jene, die nicht kooperieren. Hat man da vielleicht zu viel auf Fördern und zu wenig auf Fordern setzt?

Heil: Eine Eigenverantwortung gilt auch im Bürgergeld. Wir haben mit der Reform zum 1. Januar 2023 ja auch dafür gesorgt, dass weiterhin Mitwirkungspflichten zu erfüllen sind und andernfalls Leistungen gemindert werden können. Ich will aber betonen, dass die allermeisten Menschen von sich aus mitwirken. Insofern wurde die Bedeutung der Sanktionen in der politischen Debatte oft überschätzt. Wichtig ist aber, dass sich alle der Mitwirkungspflichten bewusst sind. Deshalb wollen wir dies jetzt auch noch einmal verstärkt deutlich machen, wenn es um die Integration von Geflüchteten mit Bleibeperspektive in den Arbeitsmarkt geht.

FAZ: In anderen europäischen Ländern haben schon mehr als die Hälfte der Geflüchteten aus der Ukraine Arbeit, hierzulande weniger als ein Viertel. Woran liegt das?

Heil: Wer in Deutschland arbeiten will, braucht in der Regel Kenntnisse der deutschen Sprache. Wir müssen aber auch die Vorstellung überwinden, dass Einstieg in Arbeit erst beginnen kann, wenn Menschen perfekt Deutsch sprechen. Gute Sprachkenntnisse erlangt man nicht nur in Kursen, sondern oft am besten am Arbeitsplatz. Es braucht dann aber auch die Bereitschaft von Unternehmen, sich darauf einzulassen und diese Menschen einzustellen. Schließlich ist es für Unternehmen zugleich die Chance, etwas gegen Fach-und Arbeitskräfteknappheit zu tun. Der "Integrationsturbo", ein Maßnahmenpaket, das ich soeben mit der Bundesagentur für Arbeit vorgestellt habe, wird dazu beitragen, dass dies besser gelingen kann.

FAZ: Und warum das gerade jetzt?

Heil: Vor allem tritt die Arbeitsintegration von Geflüchteten aus der Ukraine in eine zweite Phase ein: Viele kommen jetzt aus den Integrationssprachkursen und haben nun bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Es haben gerade 100.000 Ukrainerinnen und Ukrainer den Kurs abgeschlossen. In den kommenden Monaten kommen weitere 100.000 hinzu. Mit dem Job-Turbo gilt es jetzt, diese Menschen schneller in Arbeit zu bringen. Die Jobcenter werden angewiesen, diese Menschen intensiv zu betreuen, sie alle sechs Wochen einzuladen, um den Stand der Bemühungen zu besprechen; und sie werden dann auch klar über Mitwirkungspflichten informiert. Die Jobcenter werden systematisch prüfen, welche Qualifikationen vorhanden sind und wo Qualifizierungsbedarf besteht. Und zugleich bin ich schon im Gespräch mit Unternehmen und Verbänden, um zu verabreden, wie wir für diese Menschen möglichst viele geeignete Arbeitsplatzangebote organisieren.

FAZ: Seit den Landtagswahlen mit Erfolgen für die AfD geht es politisch viel stärker um Migration, um Begrenzung und mehr Anforderungen an Asylbewerber. Ist das jetzt die Migrationswende der Ampel?

Heil: Wir müssen dafür sorgen, die zu hohe irreguläre Migration klar zu reduzieren. Dazu haben wir schon weit vor den Landtagswahlen im Oktober Maßnahmen auf dem Weg gebracht. Eine der wichtigsten ist das gemeinsame europäische Asylsystem. Und wir haben nationale Maßnahmen ergriffen, denn wir nehmen die Sorge vor Kontrollverlust und Überforderung in vielen Städten und Gemeinden ernst. Zu den Maßnahmen gehören verschärfte Grenz­kontrollen. Und wir müssen zusammen mit den Ländern stärker Rück­führungen durchsetzen. Dazu beschließen wir in der kommenden Woche im Kabinett Gesetzesänderungen. Wir stehen aber selbstverständlich weiterhin zu unserer humanitären Verpflichtung, politisch Verfolgten und Kriegsflüchtlingen Schutz zu geben. Und mit dem Fachkräfte­einwanderungs­gesetz sorgen wir für gesteuerte und legale Zuwanderung für den deutschen Arbeitsmarkt.

FAZ: Wie stehen Sie zur Forderung, Asylbewerbern im Verfahren und auch nach negativem Asylbescheid leichter Zugang zu Beschäftigung zu geben?

Heil: Da muss man aufpassen, dass die Unterscheidung zwischen Asyl-und Erwerbsmigration nicht zu sehr verwischt. Ich bin aber durchaus dafür, unsinnige Arbeitsverbote abzuschaffen.

FAZ: Welche sind das?

Heil: Richtig ist der Ansatz, den wir schon mit dem Chancenaufenthaltsgesetz verfolgt haben: Wenn abgelehnte Asylbewerber wegen Abschiebehindernissen eine Duldung haben und schon lange hier sind, dann sollte man ihnen pragmatisch Zugang zum Arbeitsmarkt geben. Genauso wichtig ist aber, dass wir keine falschen Anreize setzen: Für Identitätstäuscher oder für diejenigen, die aus sicheren Herkunftsländern kommen, wird es keine erleichterten Möglichkeiten geben können.

FAZ: Was halten Sie von einer Pflicht zu gemeinnütziger Arbeit für Asylbewerber?

Heil: Die rechtliche Möglichkeit dazu sieht das Asylbewerberleistungsgesetz schon heute vor. Und wo das richtig ist, sollen die dafür zuständigen Kommunen und Länder auch davon Gebrauch machen. Das muss aber immer vor Ort entschieden werden. Es stattdessen zentralistisch für alle Asylbewerber vorzugeben wäre grundfalsch. Denn wenn es sich um Geflüchtete mit Bleibeperspektive handelt, sollten wir sie lieber gleich den auf den Weg in richtige Beschäftigung führen und dies nicht mit einer Pflicht zu gemeinnütziger Arbeit verzögern.