- Datum:
- 13.02.2021
Neue Osnabrücker Zeitung (NOZ): Für den Durchbruch zum Lieferkettengesetz sind Sie Wirtschaftsminister Peter Altmaier weit entgegengekommen. Es gibt etwa keine zivilrechtliche Haftung für Unternehmen. Ist das Gesetz nicht zum zahnlosen Tiger geworden?
Hubertus Heil: Unser Gesetz bringt für die Opfer von Menschenrechtsverletzungen ganz wesentliche Verbesserungen bei der Durchsetzung Ihrer Rechte: Wer in Bangladesch, Äthiopien oder Pakistan Opfer von Sorgfaltspflichtverletzungen deutscher Unternehmen wird, kann deutsche Zivilgerichte anrufen. Mehr noch: Wer geltend macht in seinen Menschenrechten durch deutsche Unternehmen verletzt zu sein, kann künftig Gewerkschaften und deutsche Hilfsorganisationen wie Brot für die Welt oder Oxfam bevollmächtigen, vor deutschen Gerichten für Gerechtigkeit und Widergutmachung zu kämpfen. Das ist ein wichtiger Fortschritt und bisher nicht da gewesen.
NOZ: Trotz der Entschärfung schimpft die Wirtschaft über ein Bürokratiemonster und Wettbewerbsnachteile. Warum haben Sie nicht auf ein gemeinsames EU-Vorgehen gewartet?
Hubertus Heil: Mir war es von Beginn an wichtig, dass wir bei diesem Thema auch auf europäischer Ebene voranschreiten. Mit unserem nationalen Gesetz stärken wir heute auch den europäischen Initiativen den Rücken. Wir zeigen: Deutschland als wichtiger EU-Mitgliedsstaat geht voran. Unser nationales Gesetz ist kein Alleingang, sondern es leistet Pionierarbeit.
NOZ: Herr Minister, der Lockdown wird verlängert, Millionen Menschen dürfen ihren Jobs weiter nicht nachgehen, können kein Geld verdienen. Wo bleibt die Öffnungsperspektive?
Hubertus Heil: Alles hängt von drei I’s ab: Das Infektionsgeschehen bei uns, die internationale Lage − Stichwort Mutationen –, und die Fortschritte beim Impfen. Alle drei Faktoren lassen noch keine vollständige Öffnung zu. Jetzt breit zu öffnen würde dazu führen, dass die Zahlen schnell wieder hochgehen. Das dürfen wir nicht riskieren, denn das wäre der größere Schaden für unsere Gesellschaft und die Wirtschaft. Wir müssen vorsichtig Schritt für Schritt aus dem Lockdown kommen und währenddessen mit Wirtschaftshilfen und Kurzarbeit gegensteuern. Ich sehe aber klar die Chance, dass wir die Krise gut überstehen. Der Lockdown wirkt, die Infektionszahlen gehen runter, der Arbeitsmarkt bleibt zugleich verhältnismäßig robust.
NOZ: Aber warum kein Stufenplan, der auch aus der SPD-Fraktion gefordert wurde? Die Wirtschaft ist wütend …
Hubertus Heil: Es gibt eine Öffnungsperspektive für Kitas und Grundschulen. Das ist sehr wichtig für Kinder, Eltern und Unternehmen! Diese Priorität ist richtig, auch wenn sie bedeutet, dass andere Bereiche warten müssen. Aber klar: Ich kann den Unmut und die Ungeduld verstehen. Doch leider ist Corona eine weltweite und höchst gefährliche Pandemie, und wir müssen die Gesundheit der Menschen schützen. Und es wurde ja auch vereinbart, dass Bund und Länder bis zum nächsten Gipfel eine Öffnungsstrategie entwickeln. Das heißt: Beim nächsten Gipfel muss es dann auch zu Entscheidungen kommen. Mit Blick auch auf die eskalierende Lage etwa in Tschechien und Portugal waren die jüngsten Entscheidungen schwierig, aber grosso modo verantwortungsvoll.
NOZ: Nur grosso modo?
Hubertus Heil: Ich jammere nicht über Entscheidungen, die gemeinschaftlich getroffen wurden. Der Blick in den Rückspiegel hilft nicht, wir müssen den Blick nach vorn richten. Das heißt, wir müssen der Gastronomie, dem Kulturbereich, dem Einzelhandel helfen. Die Hilfen sind schleppend und spät angelaufen, das hat zu Recht für Empörung gesorgt. Aber der Bundeswirtschaftsminister hat uns versprochen, dass er nacharbeitet, so dass das Geld schnell ankommt. Als Arbeitsministerium haben wir dafür gesorgt, dass die Kurzarbeit funktionieren kann, das hilft Millionen von Beschäftigten und hunderttausenden Unternehmen. Kein Staat auf der Welt mobilisiert so viele Hilfen für die Menschen und die Wirtschaft wie Deutschland!
NOZ: Dennoch suchen deutlich mehr Menschen einen Job als vor der Krise. Droht durch die Lockdown-Verlängerung jetzt doch Massenarbeitslosigkeit?
Hubertus Heil: Die Arbeitslosigkeit ist seit Corona um etwa ein Prozent angestiegen, ungefähr 600.000 Menschen sind zusätzlich auf Jobsuche. Aber: Wir haben mit dem Kurzarbeitergeld millionenfach Massenarbeitslosigkeit erfolgreich verhindert − und zugleich dafür gesorgt, dass die Wirtschaft nach der Krise direkt wieder durchstarten kann. Das dauert länger, als viele im letzten Jahr vorhergesagt haben, weil uns die Corona-Krise länger im Griff hat. Aber in diesem, spätestens im kommenden Jahr wird die Wirtschaft wieder an Dynamik gewinnen, sodass wir auch am Arbeitsmarkt wieder vorankommen und das aufholen, was wir wegen Corona verlieren.
NOZ: Kommt die Hilfe aus dem Sozialschutzpaket rechtzeitig, oder wird auch das zur Hängepartie wie die Wirtschaftshilfen?
Hubertus Heil: Das Sozialschutzpaket ist bereits im Bundestag, das Geld kommt schnell! Neben dem vereinfachten Zugang zur Grundsicherung für das ganze Jahr erhalten erwachsene Grundsicherungsempfänger 150 Euro Corona-Zuschlag, hinzu kommen 150 Euro Bonus pro Kind, die nicht auf die Grundsicherung angerechnet werden, und weitere Sofortmaßnahmen, etwa die Erstattung von Laptops für bedürftige Kinder, die sonst nicht am Distanzunterricht teilnehmen könnten. Das haben wir per Weisung an die Bundesagentur für Arbeit geregelt, weil das Geld aus dem Digitalpakt noch nicht flächendeckend abfließt.
NOZ: Der vereinfachte Zugang zu Hartz IV wird für die Pandemie-Zeit verlängert. Sie wollen die Kriterien dauerhaft lockern. Wollen Sie weg von Fördern und Fordern?
Hubertus Heil: Ich will dafür sorgen, dass wir aus dieser Krise lernen. Die Hilfe für Menschen in Not muss unbürokratischer und verlässlicher kommen und vom Makel des Stigmas befreit werden. Wir müssen alles daransetzen, die Menschen aus der Grundsicherung herauszuholen und sie nicht von der Jobsuche abhalten, weil sie sich auch noch Sorgen um ihre Wohnungen machen müssen. Daher mein Vorschlag für eine zweijährige Karenzzeit auch nach der Pandemie, in der der Staat die Mietkosten übernimmt und die Vermögensprüfung gelockert wird. Das fordern viele Praktiker in den Jobcentern. Mein Ziel ist mehr Sicherheit und neues Vertrauen in unserem Grundsicherungssystem auf dem Weg zu einem neuen sozialen Bürgergeld.
NOZ: Die Union sagt, sie will bei der schleichenden Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens nicht mitmachen …
Hubertus Heil: Darum geht es nicht, sondern um verlässliche Hilfe. Dazu zählt auch, dass wir Menschen in Grundsicherung eine qualifizierte Berufsausbildung anbieten. Denn die fehlt zwei von drei Betroffenen bislang. Ich setze deshalb auf Qualifizierung, um Menschen dauerhaft in Arbeit zu bringen.
NOZ: Die Union wehrt sich auch gegen die Stärkung der Betriebsräte, obwohl das im Koalitionsvertrag vereinbart ist. Die Gewerkschaften machen jetzt Dampf. Gibt es Fortschritte?
Hubertus Heil: Ich freue mich über die Unterstützung der Gewerkschaften, denn es ist notwendig, die Mitbestimmungsrechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu stärken. Das darf in der wirtschaftlichen und digitalen Transformation nicht unter die Räder kommen. Und wir brauchen härtere Maßnahmen, damit die Gründung von Betriebsräten nicht mehr unterdrückt wird. Hier geht es um den Kündigungsschutz von Menschen, die ihr Recht wahrnehmen wollen, einen Betriebsrat zu gründen. Ich setzte alle Kraft da rein, um das in dieser Legislaturperiode noch zu schaffen.
NOZ: Wie wollen Sie die Union umstimmen?
Hubertus Heil: Der Gesetzentwurf ist in der Ressortabstimmung zwischen den Ministerien. Wir sind in intensiven Beratungen, damit wir schnellstmöglich einen Kabinettsbeschluss erreichen, um ihn dem Bundestag vorzulegen. Wir sind in harten, aber guten Gesprächen, ich setzte auf baldige Ergebnisse. Die Betriebsräte haben gerade in der Pandemie eine zentrale Funktion, sie helfen in den Unternehmen, gut durch die Krise kommen.
NOZ: Weitgehend einig ist sich die Koalition, dass Altenpflegekräfte besser bezahlt werden sollen. Verdi und der Pflegeverband BVAP haben gerade einen Tarifvertrag vereinbart, der Gehaltssteigerungen von 25 Prozent in zweieinhalb Jahren vorsieht. Wie wollen Sie erreichen, dass davon alle Altenpflegekräfte profitieren?
Hubertus Heil: Wenn die Sozialpartner einen Antrag bei mir einreichen und die rechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind, werde ich diesen Tarifvertrag für die gesamte Pflegebranche für verbindlich erklären. Das führt zu substanziell besseren Lohn- und Arbeitsbedingungen. Die Gespräche laufen und ich hoffe, dass Alle dazu beitragen, dass es gelingt.
NOZ: Auch die Kirchen als große Träger von Pflegeeinrichtungen müssten mitziehen …
Hubertus Heil: Alle Pflegearbeitgeber sollten die Gelegenheit für diesen historischen Schritt nutzen. Die kirchlichen Arbeitgeber haben die Möglichkeit, sich über das Gesetz an den Tarifvertrag anzulehnen. Dafür haben wir extra das Tor aufgestoßen. Das wäre ein echter Durchbruch, um die Zukunft der Pflege zu sichern.
NOZ: Wer würde höhere Pflegelöhne bezahlen?
Hubertus Heil: Dass das Geld kostet, ist völlig klar. Klar ist aber auch: Tarifsteigerungen werden über die Pflegeversicherung refinanziert. Es geht hier nicht nur um eine Frage des Respekts, sondern auch eine Frage der Vernunft: Ohne bessere Bezahlung und bessere Arbeitsbedingungen werden wir es bald nicht mehr schaffen, ausreichend Fachkräfte in der Pflege zu finden.