- Anfang:
- 28.04.2023
- Ende:
- 28.04.2023
- Redner*in:
- Bundesminister Hubertus Heil
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Mitglieder des Bundesrates! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vor einiger Zeit war ich bei thyssenkrupp in Duisburg, einem der großen und traditionsreichen Unternehmen im Ruhrgebiet. Ich habe dort einen jungen Mann kennengelernt, noch keine 30 Jahre alt, ein gelernter Stahlwerker, der nach einem schweren Verkehrsunfall im Rollstuhl sitzt – ein schweres persönliches Schicksal. Aber er kann seine Arbeitskraft und sein Können weiterhin in der Metallverarbeitung einbringen, denn das Unternehmen weiß, was es an ihm hat.
Meine Damen und Herren, es geht darum, von diesem guten Beispiel zu lernen, denn Inklusion am Arbeitsmarkt ist nicht nur eine Frage der sozialen Teilhabe und Gerechtigkeit, sondern schlicht und ergreifend – auch in Zeiten von Arbeits- und Fachkräftemangel – der ökonomischen Vernunft. Die Argumente von Unternehmen, die das ablehnen, obwohl sie seit vielen Jahren schon gesetzgeberisch verpflichtet sind, schwerbehinderten Menschen eine Chance auf dem Arbeitsmarkt zu geben, das aber bislang ablehnen, tragen nicht mehr. Denn wir haben nicht nur Arbeits- und Fachkräftemangel, sondern wir haben auch technisch alle Möglichkeiten, um inklusive Arbeitsplätze einzurichten. Wir haben alle Fördermöglichkeiten, die wir mit diesem Gesetz übrigens gezielter auf den ersten Arbeitsmarkt konzentrieren. Und wir haben übrigens auch dafür gesorgt, dass es für die Unternehmen im Rahmen der Förderung einheitliche Ansprechstellen gibt. Es gibt also keine Ausreden mehr. Sie wissen es in Ihren Bundesländern genauso wie wir für ganz Deutschland: Wenn wir beim Thema Arbeits- und Fachkräftemangel nicht alle Register ziehen, dann wird dieser zur Bedrohung von Wachstum und Wohlstand in Deutschland.
Das Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung hat ermittelt, wie viel Arbeits- und Fachkräfte wir bis 2035 brauchen. Heute klagen wir über Arbeits- und Fachkräftemangel wegen einer guten Entwicklung. Es waren noch nie so viele Menschen in Arbeit wie heute. 45,6 Millionen Erwerbstätige, rund 34,6 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. Trotz aller Krisen besteht keine Massenarbeitslosigkeit in Deutschland. Die Bedrohung für Wachstum und Wohlstand entsteht aufgrund der demografischen Entwicklung, da ab 2035 die geburtenstarken Jahrgänge – die Generation der sogenannten Babyboomer, der vor 1964 Geborenen – in den wohlverdienten Ruhestand gehen. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung hat uns vorgerechnet, wie viele wir brauchen, um die Lücke zu füllen, und das ist eine atemberaubende Zahl: sieben Millionen Menschen bis 2035.
Dazu wird es Produktivitätsfortschritte geben, Digitalisierung. Es ist notwendig, auf Aus- und Weiterbildung zu setzen. Deshalb wird Ihnen die Bundesregierung auch das Gesetz für Aus- und Weiterbildung hier im Bundesrat vorlegen. Wir werden ältere Beschäftigte durch gezielte Förderung von Gesundheit länger im Betrieb halten müssen. Wir müssen dafür sorgen, dass wir die Frauenerwerbsbeteiligung in diesem Land nicht nur, was die Prozentsätze, sondern vor allem auch, was das Arbeitszeitvolumen betrifft, stärker zur Entfaltung bringen. Und wir brauchen qualifizierte Einwanderung, um diese große Aufgabe zu meistern.
Aber ein Thema, das immer unterschätzt wird, ist, dass wir bereits Fachkräfte in Deutschland haben, die gut ausgebildet sind. Ein Vorurteil und Argument ist oft: Menschen mit Behinderungen können ja nichts, die sind nicht so produktiv. – Das ist ein Märchen! Denn, wenn ich die Tatsache betrachte, dass arbeitslose Menschen mit einer schweren Behinderung im Schnitt höher qualifiziert sind als andere Arbeitslose, und trotzdem eine schlechtere Chance auf Arbeit haben, dann muss ich sagen: Das ist eine Ausrede. Wir reden über 165.000 Menschen in Deutschland, die dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stünden, wenn dieses Potenzial besser ausgeschöpft würde.
Ich will aber sagen, dass unser Land natürlich eher von positiven Beispielen lebt. Ich möchte mich an dieser Stelle bei allen Unternehmerinnen und Unternehmern bedanken, die aus Gründen der wirtschaftlichen Vernunft und vorurteilsfrei dafür gesorgt haben, dass Menschen mit Behinderung Arbeit gefunden haben. Auch dazu habe ich ein gutes Beispiel aus dieser Stadt Berlin, genauer gesagt: aus Spandau bei Berlin.
Rede des Bundesministers für Arbeit und Soziales, Hubertus Heil, am 12. Mai 2023 im Bundesrat zum Gesetz zur Förderung eines inklusiven Arbeitsmarkts.
"Es gibt keine Ausreden mehr"
Ich habe vorletzte Woche ein Unternehmen besucht, das rund 30 Menschen mit unterschiedlichen Formen von Beeinträchtigungen beschäftigt. Das sind weit über sieben Prozent der Beschäftigten, und damit ist übrigens die gesetzgeberische Quote übererfüllt. Dieses Unternehmen und viele andere große und mittelständische Unternehmen zeigen, wie es geht. Ich will aber auch sagen, dass wir als Politik, als Staat angesichts all dieser Tatsachen nicht nur erkennen müssen, dass es keine Ausreden mehr geben darf, sondern auch, dass es von allein nicht richtig vorangeht. Man kann es auch anders sagen: Für Unternehmen, die seit 2001 eigentlich gesetzlich verpflichtet sind, schwerbehinderte Menschen einzustellen, und die exakt null Beschäftigung in diesem Bereich vorweisen können, dürfen wir auch null Verständnis haben.
Meine Damen und Herren, deshalb braucht es ein Umdenken. Und genau deshalb führen wir mit diesem Gesetz nicht nur die gezieltere Förderung für Unternehmen ein, nicht nur Entbürokratisierung, sondern sorgen vor allen Dingen für eine vierte Stufe der Ausgleichsabgabe. Ich will betonen: Es geht nicht darum, Arbeitgeber zu bestrafen. Kein Unternehmen wird mit dieser Ausgleichsabgabe überfordert. Es geht vielmehr um einen Anreiz, schwerbehinderten Menschen eine Einstellungsperspektive zu geben und das Potenzial für Fachkräftesicherung zu nutzen.
Das Gesetz sieht zudem Maßnahmen vor, die die Ausgleichsabgabe gezielt auf den ersten allgemeinen Arbeitsmarkt konzentrieren. Wir sorgen dafür, dass bei dem – erfolgreichen – Budget für Arbeit keine Deckelung mehr stattfindet, sodass unterschiedlichste Formen von Einschränkungen nicht zum Einstellungshindernis werden können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir stärken mit diesem Gesetz die Arbeitskräftebasis, und das ist gut für das gesamte Land. Es geht um Solidarität, um Unterstützung, um gleichberechtigte Teilhabe, weil Arbeit für die meisten Menschen, mit oder ohne Einschränkung, mehr ist als Broterwerb. Es ist nicht nur Geldverdienen, es ist Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Aber es ist vor allen Dingen, wie gesagt, wirtschaftlich vernünftig.
Ich nutze die Gelegenheit, mich ganz herzlich zu bedanken. Denn dieses Thema ist keines, über das sich Bund und Länder streiten sollten. Es ist auch kein parteipolitisches Thema, es ist ein ganz praktisches. Und wir wissen alle, dass unser Land besser vorankommt, wenn wir weniger Ideologen und mehr Pragmatiker haben. Ich habe in den letzten Tagen und Wochen partei- und länderübergreifend Pragmatikerinnen und Pragmatiker kennengelernt. Ich will nicht diejenigen vergessen, die von vornherein für den Gesetzentwurf eingestanden sind im Deutschen Bundestag – auch viele Länder haben das von vornherein unterstützt.
Wir waren sehr zuversichtlich, weil der zuständige Ausschuss hier im Bundesrat dafür votiert hat. In den letzten Wochen haben wir allerdings um die Mehrheitsfähigkeit kämpfen müssen. Ich will deshalb auf eine Protokollerklärung verweisen, die ich namens der Bundesregierung zu diesem Gesetz abgeben werde. Ich habe die Hoffnung, dass sich damit eine breite Mehrheit im Bundesrat findet.
Ich will mich trotzdem namentlich bedanken, stellvertretend für viele, beim Ministerpräsidenten des Landes Baden-Württemberg, Herrn Kretschmann, der sich in den letzten Tagen und Stunden persönlich sehr eingesetzt hat, mit vielen Kollegen gesprochen hat. Ich bedanke mich beim Kollegen Laumann aus Nordrhein-Westfalen, bei den Kolleginnen Giffey und Kiziltepe und dem neuen Regierenden Bürgermeister von Berlin. Es haben also viele daran mitgewirkt, dass das heute klappen kann. Und das ist gut für unser Land.
Mit einer zeitgemäßen Ausbildung, gezielten Weiterbildungen und einer modernen Einwanderungspolitik wollen wir die Arbeit als Fachkraft wieder attraktiver machen und Unternehmen bei der Fachkräftesicherung unterstützen.