- I. Allgemeiner Grundsatz: Nachrang der Kinder und Jugendhilfe gegenüber dem Sozialen Entschädigungsrecht
- II. Kostenerstattung nur bei Bestehen eines Leistungsanspruches gegen den Träger der Sozialen Entschädigung
- III. Zusammenfassung
Bei der Leistungserbringung an Kinder und Jugendliche an der Schnittstelle zwischen SGB VIII und dem am 1. Januar 2024 in Kraft getretenen SGB XIV können sich Erstattungsansprüche der Träger der öffentlichen Jugendhilfe gegenüber den Trägern der Sozialen Entschädigung ergeben. Die Erstattungsverfahren zwischen den Trägern sind einheitlich und praktikabel auszugestalten.
Um diese Zielsetzung zu unterstützen, weist dieses Rundschreiben auf folgende rechtliche Grundsätze hin und aktualisiert damit das gemeinsame Rundschreiben vom 14. November 2007 (IVc 1 - 46651 - 8, 511 - 2258 - 04/000). Dabei wird zugrunde gelegt, dass sich das bereits im Rundschreiben vom 14. November 2007 beschriebene Hilfesystem für geschädigte Kinder und Jugendliche grundsätzlich bewährt hat, insbesondere dank des bei den Jugendhilfeträgern vorhandenen Wissens und ihrer Vernetzung.
I. Allgemeiner Grundsatz: Nachrang der Kinder und Jugendhilfe gegenüber dem Sozialen Entschädigungsrecht
Das allgemeine Verhältnis der Leistungen nach dem SGB VIII zu den Leistungen der Sozialen Entschädigung ergibt sich aus § 10 Abs. 1 SGB VIII. Danach sind Verpflichtungen anderer, insbesondere der Träger anderer Sozialleistungen, gegenüber den Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe vorrangig. Auch das SGB XIV statuiert den Vorrang der Leistungen des SGB XIV gegenüber den Leistungen anderer Träger (§ 28 Abs. 1 SGB XIV). Das bedeutet, dass sich ein Leistungsträger seiner Verpflichtung nicht unter Hinweis auf eine Leistung der Kinder- und Jugendhilfe entziehen kann. Der Vorrang der Verpflichtung anderer gilt jedoch nur, soweit die vorrangige Leistung tatsächlich realisiert oder demnächst realisiert werden kann (ständige Rspr., vgl. Nachweise bei Luthe in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 3. A., § 10 SGB VIII (Stand: 30.08.2023), Rn. 19). Leistet z. B. der vorrangig verpflichtete Leistungsträger nicht, so hat der nachrangig verpflichtet Leistungsträger die Leistungen zu erbringen, bis der vorrangige Leistungsträger entsprechende Leistungen gewährt. Im Kontext einer Leistung der Kinder- und Jugendhilfe ist zudem zu beachten, dass dort Gegenstand der Leistung nicht die wirtschaftliche Sicherstellung des Bedarfs durch die Gewährung einer Geldleistung, sondern die unmittelbare Deckung des psychosozialen Bedarfs in Form einer personenbezogenen sozialen Dienstleistung ist. Dazu zählt auch die Steuerung des Hilfeprozesses durch den Träger der öffentlichen Jugendhilfe nach § 36 SGB VIII als unverzichtbare pädagogische Begleitung jeder Hilfe zur Erziehung oder Eingliederungshilfe. Der damit verbundene hohe fachliche Anspruch kann nur unter Einsatz von entsprechend ausgebildeten und geschulten Fachkräften erfüllt werden.
Besteht ein inhaltsgleicher Anspruch gegenüber dem Träger der Sozialen Entschädigung, der von diesem vorrangig zu erfüllen ist, so ist zu beachten, dass dieser über keine der Steuerungsverantwortung der Kinder- und Jugendhilfe entsprechende Möglichkeit der Hilfesteuerung verfügt. Würde dies von ihm verlangt, so müsste ein Parallelsystem zur Kinder- und Jugendhilfe entwickelt werden. Eine solche Forderung würde jedoch dem Grundsatz der Verwaltungseffizienz zuwiderlaufen. Besteht gleichzeitig ein Anspruch auf Hilfen zur Erziehung oder eine Leistung der Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit seelischen Behinderungen gegenüber dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe und ein inhaltsgleicher Anspruch gegenüber dem Träger der Sozialen Entschädigung, so tritt der Träger der öffentlichen Jugendhilfe aus den dargestellten Erwägungen in Vorleistung, gewährt also auf der Grundlage seiner Hilfeplanung die Hilfe. Der Nachrang der Kinder- und Jugendhilfe wird anschließend im Wege der Kostenerstattung wiederhergestellt.
Dieses Prinzip entspricht auch dem Verhältnis der Pflicht zur Selbsthilfe gegenüber Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe. Um das Wohl der betroffenen Kinder und Jugendlichen sicherzustellen, darf der Träger der öffentlichen Jugendhilfe nicht auf die Pflicht zur Selbsthilfe verweisen. Vielmehr ist er zur Vorleistung verpflichtet und stellt den Nachrang seiner Leistung im Wege der Kostenbeteiligung wieder her. Zur Vermeidung von Erstattungsstreitigkeiten wird empfohlen, dass beide Leistungsträger schon vor der Leistungsentscheidung kooperieren.
II. Kostenerstattung nur bei Bestehen eines Leistungsanspruches gegen den Träger der Sozialen Entschädigung
Der Träger der Sozialen Entschädigung braucht dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe nur das zu erstatten, was er selbst bei direkter Leistung an den Berechtigten zu erbringen hätte. Dies ergibt sich bereits aus der in § 104 Abs. 3 SGB X getroffenen Regelung, wonach sich der Umfang des Erstattungsanspruchs nach den für den vorrangig verpflichteten Leistungsträger geltenden Rechtsvorschriften richtet.
Auch wenn die Träger der öffentlichen Jugendhilfe für Leistungen an geschädigte oder hinterbliebene Kinder und Jugendliche mit Leistungen des SGB VIII in Vorleistung gehen, gilt weiterhin der Grundsatz der Vorrangigkeit von Leistungen des Sozialen Entschädigungsrechts (§ 10 Abs. 1 SGB VIII, § 28 Abs. 1 SGB XIV). Wenn und soweit allerdings ein vorrangiger Anspruch der Betroffenen gegen den Träger der Sozialen Entschädigung nicht vorhanden ist (z.B. mangels Leistungstatbestands im SGB XIV, fehlender medizinischer Kausalität oder wegen fehlender Mitwirkung gem. § 66 SGB I), kann der Träger der öffentlichen Jugendhilfe keine Kostenerstattung verlangen.
1. Kostenerstattung nur bei übereinstimmenden Leistungskatalogen im SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfe) und im SGB XIV (Soziale Entschädigung)
Der Leistungsumfang der Kinder- und Jugendhilfe geht in seiner Konzeption als ein auffangorientiertes und umfassendes Schutz- und Sicherungssystem über das schädigungsbezogene Ausgleichssystem des SGB XIV hinaus. Das SGB XIV hat die Abfederung von schädigungsbedingten Belastungen im Sinne des Aufopferungsgedankens zum Ziel, während das SGB VIII einen Unterstützungs- und Schutzauftrag erfüllt, der sich über alle auftretenden Bedarfslagen ungeachtet ihrer konkreten Ursachen hinweg erstreckt. Aufgrund dieser Zielsetzungen ist auch der Leistungskatalog des SGB XIV gegenüber dem des SGB VIII eingeschränkt bzw. abweichend.
In der Praxis kam es hierbei bisher besonders dann zu Unklarheiten, wenn der Träger nach dem SGB VIII Hilfe zur Erziehung nach den §§ 27 ff. SGB VIII leistete und vom Träger der Kriegsopferfürsorge Kostenerstattung für Erziehungsbeihilfe verlangte (§§ 25b Abs. 1 S. 1 Nr. 6, 27 Bundesversorgungsgesetz (BVG) i.V.m. §§ 18 ff. Kriegsopferfürsorgeverordnung (KFürsV)). Die Erziehungsbeihilfe nach § 27 BVG war bisher eine Leistung, die nur Beschädigte für ihre Kinder oder Waisen (von Beschädigten) erhalten konnten. In den Fällen, in denen Berechtigte diese Leistung erhielten, korrespondierte die Leistung nach § 27 BVG mit den Hilfen zur Erziehung gem. §§ 27 ff. SGB VIII. Kostenerstattung war also bisher möglich.
a) Kostenerstattung für Hilfen zur Erziehung (§§ 27 ff. SGB VIII)
Eine Erstattung von Kosten des Jugendhilfeträgers für Hilfen zur Erziehung (§§ 27 ff. SGB VIII) durch den Träger der Sozialen Entschädigung kann ab 1. Januar 2024 in Fällen weiterhin stattfinden, in denen Erziehungsbeihilfen nach § 27 BVG noch aufgrund eines bis 31. Dezember 2023 erlassenen Leistungsbescheids oder aufgrund einer vorübergehenden Weiterbewilligung nach § 145 SGB XIV erbracht werden. Diese Konstellation ist jedoch ausweislich der besitzstandsrechtlichen Regelung des § 145 Abs. 1 S. 1 SGB XIV bis längstens 31. Dezember 2033 möglich. Eine Rückausnahme wären unbefristet beschiedene Erziehungsbeihilfen, die ihre Gültigkeit nach den allgemeinen Besitzstandsregeln des § 142 SGB XIV auch unbefristet behalten würden. Diese Konstellation dürfte jedoch in der Praxis sehr selten sein.
In Fällen, in denen Entschädigungsleistungen erstmals ab dem 1. Januar 2024 beantragt und nach dem SGB XIV gewährt werden oder in denen Besitzstandsberechtigte ihr Wahlrecht ausgeübt und die Leistungen des neuen Rechts gewählt haben, können dem Jugendhilfeträger grundsätzlich keine Kosten für erbrachte Hilfen zur Erziehung (§§ 27 ff. SGB VIII) mehr vom Träger der Sozialen Entschädigung erstattet werden. Das entschädigungsrechtliche Pendant der Erziehungsbeihilfe, das bis 31. Dezember 2023 im Sozialen Entschädigungsrecht enthalten war, wurde bewusst nicht ins SGB XIV übernommen.
Sind Kinder oder Jugendliche selbst Beschädigte und kommen ihnen Hilfen zur Erziehung nach §§ 27 ff. SGB VIII zugute, kommt eine Kostenerstattung für Leistungen der Erziehungsbeihilfe nach § 27 BVG grundsätzlich auch nicht im Rahmen des Besitzstandes in Betracht, da ein Anspruch auf diese Leistung schon nach dem BVG nicht bestand. Etwas Anderes galt schon unter dem BVG und gilt weiter unter dem SGB XIV, wenn der Träger des SGB VIII Hilfe zur Erziehung erbringt und diese Leistung einer Leistung der Eingliederungshilfe (Sozialen Teilhabe) für das geschädigte Kind oder den geschädigten Jugendlichen entspricht. Dies kann bei einer Leistung zur Erziehung in Form einer Heimerziehung ebenso der Fall sein wie bei einer Betreuung in einer Pflegefamilie (davon sind sowohl das BVerwG als auch das BSG ausgegangen - BVerwG 17.7.2019 – 5 C/18, JAmt 2019, 590; BSG 19.5.2022 – B 8 SO 9/20 R Rn. 19; vgl. auch Rademacker, JAmt 9/2024, S. 446, Fn. 40-43). Voraussetzung für einen Kostenerstattungsanspruch des Jugendhilfeträgers ist in solchen Fällen zum einen eine Kongruenz beider Leistungen. Diese kann insbesondere in Fällen der Unterbringung eines geschädigten Kindes oder Jugendlichen in einer Pflegefamilie oder in einem Heim der Fall sein (vgl. §§ 33, 34 SGB VIII und § 66 Abs. 1 SGB XIV i.V.m. § 113 IX, insbesondere § 113 Abs. 2 Nr. 4 SGB IX). Zum anderen muss der Bedarf der Maßnahme aufgrund der Schädigungsfolgen entstanden sein (siehe unter 3.).
b) Kostenerstattung für Leistungen der Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit seelischer Behinderung oder drohender seelischer Behinderung (§ 35a SGB VIII)
Unter der Voraussetzung, dass eine (drohende) seelische Behinderung vorliegt, erhalten junge Menschen Leistungen zur Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII. Dazu gehören ambulante, teilstationäre als auch stationäre Leistungen. Der Leistungskatalog umfasst Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, Leistungen zur Teilhabe an Bildung und Leistungen zur Sozialen Teilhabe (§ 35a Abs. 3 SGB VIII in Verbindung mit Kapiteln 3 bis 6 Teil 2 SGB IX).
Die Teilhabeleistungen des SGB XIV, geregelt in Kapitel 6, umfassen nach § 62 Satz 1 SGB XIV alle Leistungsgruppen des Teilhabe- und Rehabilitationsrechts: Leistungen zur medizinischen Rehabilitation (§ 62 Satz 1 Nr. 4, Satz 2 i.V.m. Kapitel 5 SGB XIV), Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (§§ 63 und 64 SGB XIV), Leistungen zur Teilhabe an Bildung (§ 65 SGB XIV i.V.m. Teil 2 Kapitel 5 SGB IX) und Leistungen zur Sozialen Teilhabe (§ 66 SGB XIV i.V.m. Kapitel 6 SGB IX).
Eine Erstattung von Kosten des Jugendhilfeträgers für Leistungen der Eingliederungshilfe (§ 35a SGB VIII) vom Träger der Sozialen Entschädigung kommt ab 1. Januar 2024
- sowohl in Fällen in Betracht, in denen Eingliederungshilfe nach § 27d Abs. 1 Nr. 3 BVG noch aufgrund eines bis 31. Dezember 2023 erlassenen Leistungsbescheids oder aufgrund einer vorübergehenden Weiterbewilligung nach § 145 SGB XIV erbracht wird,
- als auch in Fällen, in denen ab 1. Januar 2024 erstmals Teilhabeleistungen im Sinne des Kapitel 6 SGB XIV beantragt werden und die Leistungsvoraussetzungen erfüllt sind.
Für Kinder und Jugendliche besonders relevant sind die Leistungen zur Teilhabe an Bildung und die Leistungen zur Sozialen Teilhabe. Leistungen zur Teilhabe an Bildung (§ 65 SGB XIV i.V.m. Teil 2 Kapitel 5 SGB IX) beinhalten
- als Hilfen zu einer Schulbildung (§ 65 SGB XIV i.V.m. § 112 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB IX) beispielsweise die Übernahme der Kosten eines Integrationshelfers („Schulassistenz“), Fahrkosten für die Zurücklegung des Weges zur Schule, Gegenstände und Hilfsmittel, die wegen der gesundheitlichen Beeinträchtigung zur Teilhabe an Bildung erforderlich sind (z.B. Notebook nebst Zubehör für blinden Schüler), Kosten von heilpädagogischen sowie sonstigen Maßnahmen, Kosten für die Einnahme eines gemeinsamen Mittagessens als gemeinschaftsfördernde erzieherische Maßnahme in einer Schule für Sprachbehinderte, schulische Ganztagsangebote im Rahmen von § 112 Abs. 1 S. 2 SGB IX,
- als Hilfen zur schulischen oder hochschulischen Ausbildung oder Weiterbildung für einen Beruf (§ 65 SGB XIV i.V.m. § 112 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB IX) beispielsweise Assistenzleistungen, Gegenstände und Hilfsmittel, die wegen der gesundheitlichen Beeinträchtigung zur Teilhabe an Bildung erforderlich sind (z.B. behinderungsgerecht ausgestatteter PC/Laptop, Hörhilfen, Körperersatzstücke, orthopädische und andere Hilfsmittel), auch im Rahmen der Ableistung von Praktika, Teilnahme an Fernunterricht, sowie Vorbereitungsmaßnahmen hierzu.
Leistungen zur Sozialen Teilhabe (§ 66 SGB XIV i.V.m. Teil 2 Kapitel 6 SGB IX) beinhalten beispielsweise
- Leistungen für Wohnraum,
- Assistenz (z.B. für Wohnen und Mobilität),
- Leistungen zur Betreuung in einer Pflegefamilie,
- Leistungen zum Erwerb und Erhalt praktischer Kenntnisse und Fähigkeiten,
- Leistungen zur Förderung der Verständigung,
- Leistungen zur Mobilität,
- heilpädagogische Leistungen,
- Hilfsmittel,
- Besuchsbeihilfen.
2. Kostenerstattung aufgrund neuer Anrechnungsfreiheit bei Teilhabeleistungen im SGB XIV
In der Konzeption des SGB XIV sind die Teilhabeleistungen nicht mehr Bestandteil der fürsorgerischen Leistungen. Sie sind nunmehr als eigenständige Entschädigungsleistungen in Kapitel 6 des SGB XIV geregelt. Dadurch soll der Teilhabegedanke deutlich gestärkt und die Leistungen zur Teilhabe von den einkommens- und vermögensabhängigen fürsorgerischen Leistungen entkoppelt werden. Dies ist insofern zugunsten der Träger der Jugendhilfe bedeutsam, da eine Kostenerstattung bisher aufgrund der nach dem BVG vorgesehenen Einkommensanrechnung auch in diesem Bereich an den unterschiedlichen Regelungen zur Anrechnung von Einkommen im SGB VIII und BVG/KFürsV scheitern konnte bzw. auch daran, dass im BVG zusätzlich Vermögen einzusetzen war. Ebenso bedeutet die Herauslösung der Teilhabeleistungen aus den fürsorgerischen Leistungen, dass eine wirtschaftliche Kausalität nicht mehr Leistungsvoraussetzung ist. So musste nach der Rechtslage des BVG das Unvermögen, den fürsorgerischen Bedarf aus eigenem Einkommen und Vermögen zu decken, schädigungsbedingt sein. Daran konnte ein Kostenerstattungsanspruch des Trägers der Jugendhilfe scheitern. Geblieben ist das Erfordernis der medizinischen Kausalität, das heißt: der Bedarf an einer Leistung zur Teilhabe muss auf der als Schädigungsfolge anerkannten Gesundheitsstörung beruhen (siehe unter 3.).
Durch diese gesetzliche Neuordnung der Teilhabeleistungen im SGB XIV kann es daher häufiger als bisher zu einem Leistungsanspruch und in der Folge auch zu einem Vorrang des Sozialen Entschädigungsrechts sowie zu einem Erstattungsanspruch der Kinder- und Jugendhilfe gegenüber den Trägern der Sozialen Entschädigung kommen.
Damit erhalten auch Kinder und Jugendliche, die aufgrund der Schädigungsfolgen an einer seelischen Behinderung leiden, Leistungen zur Teilhabe nach Kapitel 6 SGB XIV (§§ 62 ff. SGB XIV). Durch den direkten Verweis in §§ 65 und 66 SGB XIV auf das Leistungsrecht der Eingliederungshilfe wird nicht nur auf den Leistungskatalog der Teilhabe an Bildung und Sozialen Teilhabe verwiesen, sondern auch auf die Voraussetzungen, einschließlich § 99 SGB IX. Für einen Rechtsanspruch muss nach § 99 Abs. 1 und 2 SGB IX daher eine wesentliche Behinderung vorliegen oder eine wesentliche Behinderung drohen, was der Rechtslage des BVG entspricht (vgl. BT-Drs. 19/13824, 201). Allerdings können auch Kinder und Jugendliche mit anderen Beeinträchtigungen - ohne den Grad der „wesentlichen Behinderung“ im Sinne des § 99 Abs. 1 SGB IX zu erfüllen - Leistungen zur Teilhabe an Bildung und zur Sozialen Teilhabe vom Träger der Sozialen Entschädigung als Ermessensleistung erhalten, vgl. §§ 65 und 66 SGB XIV i.V.m § 99 Abs. 3 SGB IX. Bei nicht erreichter Wesentlichkeit der Behinderung besteht also ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Bescheidung.
Tritt ein Träger der Jugendhilfe mit einer dem Leistungsumfang der §§ 62 ff. SGB XIV entsprechenden Eingliederungsmaßnahme nach § 35a SGB VIII in Vorleistung, kann er also Erstattung vom Träger der Sozialen Entschädigung verlangen.
3. Keine Kostenerstattung bei fehlender Kausalität
Die Leistungen der Sozialen Entschädigung setzen einen speziellen Kausalzusammenhang voraus. Unterstützt werden Menschen, die durch ein schädigendes Ereignis, für das die staatliche Gemeinschaft eine besondere Verantwortung trägt, eine gesundheitliche Schädigung erlitten haben, bei der Bewältigung der dadurch entstandenen Folgen, §§ 1 Abs. 1, 4 Abs. 1 S. 1 SGB XIV. Die in Betracht kommenden schädigenden Ereignisse sind abschließend aufgezählt, § 1 Abs. 2 SGB XIV. Hierzu zählt auch die erhebliche Vernachlässigung von Kindern (s. hierzu auch Rds. Vb7-53811-1/1 vom 16.07.2024), für die daher ebenfalls das nachstehend dargestellte Erfordernis der doppelten Kausalität gilt. Für einen Entschädigungsanspruch muss also in doppelter Hinsicht Kausalität bestehen: Zwischen schädigendem Ereignis und Gesundheitsschaden einerseits (haftungsbegründende Kausalität) sowie zwischen Gesundheitsschaden und zu entschädigenden gesundheitlichen oder wirtschaftlichen Folgen andererseits (haftungsausfüllende Kausalität). Wie bereits im BVG genügt auch im SGB XIV sowohl im Rahmen der haftungsbegründenden als auch im Rahmen der haftungsausfüllenden Kausalität grundsätzlich die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs (Knickrehm, in: LPK-SGB XIV, § 4 Rn. 26), § 4 Abs. 4 S. 1 SGB XIV. Sie ist gegeben, wenn mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht, § 4 Abs. 4 S. 2 SGB XIV. Für den Bereich psychischer Gesundheitsstörungen besteht eine widerlegbare Vermutung, § 4 Abs. 5 SGB XIV.
Auch zwischen der festgestellten Schädigungsfolge und dem konkreten Bedarf im Einzelfall muss Kausalität bestehen, vgl. § 25 SGB XIV. Probleme bei der Beurteilung der Kausalität kann es beispielsweise geben, wenn mehrere Ursachen für den Bedarf an Leistungen zur Teilhabe von Bedeutung sind. Dann ist die Theorie der wesentlichen Bedingung heranzuziehen. Diese Kausalitätstheorie setzt voraus, dass die Schädigung wesentliche Bedingung für den Bedarf an Teilhableistungen ist, nicht aber, dass sie die alleinige Ursache ist. Wenn andere Umstände für den Bedarf mitverantwortlich sind, dann muss die anerkannte Schädigungsfolge aber zumindest annähernd gleichwertig gegenüber den anderen Ursachen sein. Wenn anderen Ursachen die überwiegende Bedeutung für den Bedarf zukommt, ist die haftungsausfüllende Kausalität nicht gegeben. Die Prüfung und Entscheidung der Kausalität obliegt dem Träger der Sozialen Entschädigung.
Aus diesen Grundsätzen der Kausalität in der Sozialen Entschädigung ist für das Kostenerstattungsverfahren zwischen den Trägern der öffentlichen Jugendhilfe und der Sozialen Entschädigung Folgendes zu beachten:
An der Kausalität als Voraussetzung für Leistungen der Sozialen Entschädigung – hier Leistungen zur Teilhabe - kann es beispielsweise fehlen, wenn diese Leistungen nicht aufgrund einer Gewalttat im Sinne des bisherigen OEG bzw. des neuen SGB XIV erforderlich werden, sondern zum Beispiel wegen einer erheblichen gesundheitlichen Vorschädigung des Opfers oder wegen vorangehender schwerwiegender sozialer Belastungen. Insbesondere in Fällen, in denen Träger der öffentlichen Jugendhilfe bereits Leistungen an die Berechtigten erbracht haben, bevor diese Opfer einer Gewalttat wurden, kann das Vorliegen einer für Leistungen der Sozialen Entschädigung erforderlichen Ursache für eine identische Leistung zweifelhaft sein. Eine Kostenerstattung durch den Träger der Sozialen Entschädigung kann deshalb ggf. ausgeschlossen sein (vgl. Kruse, in: LPK-SGB XIV, § 92 Rn. 30). In solchen Fällen sollten die Träger der öffentlichen Jugendhilfe unter Beachtung der Regelungen zum Sozialdatenschutz die Unterlagen, aus denen sich der Leistungsbezug nach dem SGB VIII vor der Gewalttat ergibt, den Trägern der Sozialen Entschädigung zur Verfügung stellen.
III. Zusammenfassung
Für die Praxis des Kostenerstattungsverfahrens ergeben sich damit zusammenfassend folgende Grundsätze:
- Grundsätzlich ist der Träger der Sozialen Entschädigung nach § 10 Abs. 1 SGB VIII, § 28 Abs. 1 SGB XIV vorrangig zuständig, auch wenn die Träger der öffentlichen Jugendhilfe vorläufig Leistungen erbracht haben. Besteht gleichzeitig ein Anspruch auf Hilfen zur Erziehung oder eine Leistung der Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit seelischen Behinderungen gegenüber dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe und ein inhaltsgleicher Anspruch gegenüber dem Träger der Sozialen Entschädigung, so tritt der Träger der öffentlichen Jugendhilfe in Vorleistung, er gewährt also auf der Grundlage seiner Hilfeplanung die Hilfe. Der Nachrang der Kinder- und Jugendhilfe wird anschließend im Wege der Kostenerstattung wiederhergestellt. Zur Vermeidung von Erstattungsstreitigkeiten wird empfohlen, dass sich die Träger frühzeitig über die Zuständigkeits- und Kostenverteilung verständigen.
- Eine Leistung der Kinder- und Jugendhilfe an geschädigte und hinterbliebene Kinder und Jugendliche darf nicht unter Hinweis auf die vorrangige Leistungspflicht des Trägers der Sozialen Entschädigung verweigert werden, da dem SGB VIII ein Verweis auf das Prinzip der Selbsthilfe fremd ist.
- Tritt der Träger der öffentlichen Jugendhilfe in die Leistungserbringung an geschädigte und hinterbliebene Kinder und Jugendliche aufgrund seines besonderen Schutzauftrages vorläufig ein, wird im Regelfall ein Erstattungsanspruch gegenüber dem Träger der Sozialen Entschädigung zu prüfen sein.
- Der Anspruch auf Kostenerstattung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe besteht nur in Höhe des Anspruchs der geschädigten Person (bzw. der Waisen) gegenüber dem Träger der Sozialen Entschädigung. Eine Kostenerstattung kommt nicht in Betracht, wenn und soweit keine übereinstimmenden Leistungsansprüche vorliegen. Besteht kein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB XIV, ist eine Kostenerstattung in jedem Fall ausgeschlossen.
- Eine Kostenerstattung kann insbesondere daran scheitern, dass
- die gewährte Kinder- und Jugendhilfeleistung nicht zum Leistungskatalog der Sozialen Entschädigung zählt oder
- die Kausalität zwischen als Schädigungsfolge anerkannter Gesundheitsstörung und der konkreten Bedarfslage fehlt.